Ein kleines Essay über Stille, Yoga, Bewusstsein und die Wissenschaft des Innehaltens
In meinem Heimatland Italien ist Stille etwas Seltenes. Nicht nur die Städte sind laut — auch, oft, die Menschen. Wir sprechen gerne, wir sprechen viel, wir sprechen übereinander. In Gesellschaft entsteht kaum ein Moment, der nicht sofort mit Worten, Gesten oder Geräuschen gefüllt wird. Ich habe früh gelernt, dass Stille Leere bedeutet, Verlegenheit oder Unsicherheit.
Je weiter man nach Norden reist, desto deutlicher spürt man, wie unterschiedlich Stille interpretiert und ausgehalten wird. Vielleicht hat mich gerade deshalb ausgerechnet der Text eines norwegischen Autors sofort mitgenommen: Erling Kagge schreibt über die Stille, als wäre sie eine Landschaft, die man zu Fuß durchquert. Seine Worte begleiten mich nun bei der Gestaltung meiner Spätherbst- und Winterstunden – in jener Zeit, in der es draußen dunkler wird und die innere Welt automatisch leiser.
Kagge beschreibt Stille nicht als Abwesenheit, sondern als eine Qualität, die wir wieder lernen dürfen.
Als etwas, das man sucht — und etwas, das einen findet. Als etwas, das man aushält — und etwas, das einen heilt. Und vielleicht hat mich dieser Blick auch deshalb so getroffen, weil er so weit entfernt ist von dem Ort, aus dem ich komme.
Der Süden hat mich gelehrt zu sprechen. Der Norden hat mich gelehrt zu lauschen. Zwischen diesen beiden Welten liegt meine eigene Praxis der Stille.
Stille ist mehr als die Abwesenheit von Geräusch. Sie ist eine innere Landschaft, ein Raum, der erst sichtbar wird, wenn wir uns ihm mit Achtung und Wahrnehmung nähern. Im Yoga ist Stille kein passiver Zustand, sondern ein lebendiger Prozess: das Aufhören des inneren Lärms, das Weichwerden der Grenzen, das Wieder-Erkennen unseres eigenen Wesenskerns. Stille ist das, was bleibt, wenn Präsenz die Bewegung durchdringt.
Die Yogaphilosophie beschreibt diese Erfahrung seit Jahrtausenden. „Yogaḥ citta-vṛtti-nirodhaḥ“ – Yoga ist das Zur-Ruhe-Kommen der Bewegungen des Geistes (Yoga Sūtra I.2). In diesem Augenblick tiefer Sammlung, so heißt es weiter, „ruht der Sehende in seiner wahren Natur“ (I.3). Stille ist hier nicht Ergebnis, sondern Offenbarung: etwas, das erscheint, wenn das Denken ausatmet.
Die alten Texte wissen um diese Dimension. Die Mandukya Upanishad beschreibt Turiya, das „Vierte“, als „Frieden, Stille, Glück, Nicht-Dualität“ – den Zustand jenseits von Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Im Vijñāna Bhairava Tantra heißt es, das Göttliche zeige sich „zwischen zwei Klängen, in der Pause zwischen Ein- und Ausatmen“. Stille als Zwischenraum. Stille als Ursprung. Stille als das, was wir immer sind.
Doch dieser Zugang ist zart und verlangt, wie Christian Morgenstern es ahnte, dass man die Dinge „reifen lässt“, bis eines Tages der Duft der Ernte spürbar wird. In der Erfahrung der Stille gibt es kein Drängen. Alles geschieht im Eigenrhythmus, genau wie im Gedicht: „Alles fügt sich und erfüllt sich, musst nur warten können.“
Rilke warnte davor, die Dinge zu laut zu benennen, weil in der Benennung das Unerhörte verloren geht. „Die Dinge singen hör ich so gern“, schrieb er – und diese Fähigkeit zu hören, meint im Yoga das Lauschen nach innen. Die Stille ist kein Verstummen, sondern ein Aufmerken. Sie ist das, was erklingt, wenn das Ich aufhört zu erklären.
In dieser Stille entsteht Präsenz. Doch Präsenz ist nicht das, was das Ich herstellt, sondern das, was erscheint, wenn wir aus dem Ich heraustreten. Chandra Candiani formuliert es eindrücklich: „Lieber Schweigen, hilf mir, nicht über dich zu sprechen, hilf mir, dich zu bewohnen.“ Stille ist nicht etwas, das wir kontrollieren – sie ist ein lebendiges Wesen, das uns unterrichtet, wenn wir bereit sind, still zu werden.
Auch moderne Achtsamkeitsforschung bestätigt die Wirkung dieser Stille. Studien (Sezer & Sacchet 2024; „Neurobiological Changes Induced by Mindfulness and Meditation“ 2023; Shobana et al. 2022 u. a.) zeigen, dass Momente innerer Sammlung das parasympathische Nervensystem aktivieren: Herzfrequenz und Stresshormone sinken, die Herzratenvariabilität verbessert sich, der Körper findet in eine Form biologischer Geborgenheit zurück. Meditation, bewusste Atmung und ruhige Bewegung erzeugen eine regulierende Wirkung, die den inneren Lärm nicht einfach „ausschaltet“, sondern den Raum schafft, in dem wir uns wieder hören können. Die Wissenschaft nähert sich hier einer Einsicht, die die Yoga-Tradition seit Jahrtausenden bewahrt: In der Stille wird der Mensch heiler.
Doch die Stille ist nicht immer angenehm. Pascal erinnert uns daran, dass der Mensch „sein Nichts fühlen“ kann, wenn es ruhig wird. Nietzsche nennt die Windstille der Seele eine Prüfung – aber eine, die der Erkenntnis vorausgeht. Stille fordert uns heraus, weil sie alles hörbar macht, was das laute Leben verdeckt: die Wut, die Müdigkeit, die Sehnsucht, die Zartheit. Präsenz ist kein romantisches Leuchten. Präsenz ist Ehrlichkeit.
Im Yoga lernen wir, diesen inneren Regungen mit einem Blick zu begegnen, der weder wertet noch verdrängt. Candiani schreibt: „Was die Angst betrachtet, ist nicht ängstlich.“ In der Stille entsteht eine Distanz zum Ich. Wir erkennen: Das, was wir sehen, sind nur Bewegungen – und wir sind der Raum, der sie hält.
Die Bhagavad Gītā beschreibt dies als eine Praxis der Sammlung in der Zurückgezogenheit, wo der Yogi Frieden im Selbst findet (6.10–6.15). Abhinavagupta nennt das Selbst „den stillen Raum, in dem alle Klänge erscheinen und vergehen“. Diese Sicht ist nicht abstrakt. Sie ist zutiefst körperlich. Sie verlangt, in der Haltung zu verweilen und im Atem zu wohnen. Sie verlangt, dass wir – wie Hilde Domin – „den Fuß in die Luft setzen“ und darauf vertrauen, dass uns etwas trägt, das wir nicht sehen.
Wenn wir auf diese Weise üben, verwandelt sich Bewegung: Sie wird durchdrungen von Präsenz, getragen vom Atem, durchlichtet vom Bewusstsein. Die äußere Aktion wird zur inneren Erfahrung. Bewegung wird zum Gebet. Und Stille wird zur Antwort.
Die achtsam ausgeführte Yogahaltung ist deshalb nicht nur ein körperlicher Akt, sondern ein Tor. Durch sie betreten wir – wie Hesse es in seinem Gedicht beschreibt – „Raum um Raum“, und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Yoga ist ein ständiger Neubeginn, ein Abschied von alten Gedankenmustern, ein mutiges Öffnen für das, was entsteht, wenn wir den inneren Raum nicht mehr mit Lärm füllen.
Stille entsteht also nicht, weil nichts geschieht. Sie entsteht, weil wir beginnen, das Geschehen bewusst wahrzunehmen. In der Stille erfahren wir eine Form von Ganzsein, die uns auch jenseits der Matte begleitet. Die Yogatradition, die moderne Wissenschaft und die Poesie berühren sich in diesem Punkt: Stille ist ein lebendiger Zustand, in dem wir uns selbst begegnen, ungeschützt, wahr, offen.
Stille ist nicht das Ende der Bewegung.
Stille ist die Vollendung der Präsenz.
Und wenn Präsenz die Bewegung prägt, entsteht jener heitere, klare Raum, in dem wir – für einen Moment – wirklich zu Hause sind.
Klassische Yogaschriften & Philosophie
- Patañjali. (ca. 200 BCE–200 CE). Yoga Sūtra.
- Mandukya Upanishad. (ca. 1. Jh.).
- Bhagavad Gītā, Kapitel 6:10–15. (ca. 2. Jh. v. Chr.).
- Abhinavagupta. (ca. 1000). Tantrāloka.
- (Auszüge zur Stille des Bewusstseins, sinngemäße Wiedergabe.)
- Vijñāna Bhairava Tantra. (ca. 8.–9. Jh.).
Moderne Achtsamkeits- und Yogaforschung (Alle verlinkten Studien zu letzt besucht am 18.11.25)
- Basu-Ray, I., et al. (2021). A mechanistic model for yoga as a preventive and therapeutic modality: Autonomic, HPA axis, and neuro-visceral integration effects.
Frontiers in Integrative Neuroscience.
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC8191226/ - Frank, J., Seifert, G., & Schroeder, R. (2020). Yoga in school sports improves functioning of autonomic nervous system in young adults: A non-randomised controlled pilot study. PLoS ONE, 15(4).
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0231299 - “Neurobiological Changes Induced by Mindfulness and Meditation.” (2023). PMC.
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11591838/ - Sezer, I., & Sacchet, M. D. (2024). Advanced and long-term meditation and the autonomic nervous system: A review and synthesis.
Harvard Medical School / INSERM.
https://meditation.mgh.harvard.edu/files/Sezer_24_OSF.pdf - Shobana, R., et al. (2022). Effect of long-term yoga training on autonomic function among regular practitioners. Journal of Clinical and Diagnostic Research.
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9648241/ - Kimoto, R., et al. (2021). Effect of yoga on autonomic nervous system function in middle-aged to elderly females. Journal of Physical Fitness, Sports and Medicine, 10(1).
https://www.jstage.jst.go.jp/article/jpfsm/10/1/10_25/_article - MDPI (2024). Heart rate variability, blood pressure and peripheral oxygen saturation during slow yogic breathing techniques.
https://www.mdpi.com/2411-5142/9/4/184
Literatur & Poesie
- Candiani, C. (2018). Il silenzio è cosa viva: L’arte della meditazione. Einaudi. (Eigene Übersetzung)
- Domin, H. (1959). Bitte. In Rückkehr der Schiffe. S. Fischer Verlag.
- Hesse, H. (1941). Stufen. In Das Glasperlenspiel. Suhrkamp.
- Kagge, E. (2019). Stille. Insel Verlag.
- Morgenstern, C. (1905/1985). Stilles Reifen. In Stilles Reifen: Ausgewählte Gedichte. Piper.
- Pascal, B. (1670/1954). Pensées. (Deutsche Ausgabe). Reclam.
- Rilke, R. M. (1907). Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. In Neue Gedichte. Insel.
